Skip to main content

Alles neu verkabeln?!

| OTH mind | 
Blog
Kabelsalat

Die Corona-Krise verbannt uns alle ins Haus und vor die Bildschirme. Heimarbeit und digitale Lehre ist jetzt angesagt, anstelle von Büro, Hörsaal oder Klassenzimmer. Doch reibungslos läuft diese Umstellung keineswegs. Neue Herausforderungen tun sich auf – und mit ihnen auch ganz neue Perspektiven.

Kabelsalat

Es kam alles ziemlich abrupt. Corona platzte in unser Leben, und mit dem Virus auch Abstandregeln, Ausgangssperren und Homeoffice. Auf einmal saß ich gemeinsam mit meiner kompletten Familie zuhause, anstatt zu den ersten Vorlesungen des Sommersemesters in die Hochschule zu fahren. Aber es würde trotzdem weitergehen, erklärten alle. Also rüsteten wir unser Haus um. Mein Vater nutzte die letzte Chance in sein Büro zu kommen, um sich Tastatur und Bildschirm mit nach Hause zu nehmen. Mein Bruder verlegt ein LAN-Kabel durchs Wohnzimmer, in den Gang, die Treppe nach oben in sein Zimmer. Ich sicherte mir eine Funkmaus, um die nächsten Monate nicht acht Stunden täglich auf einem kleinen Touchpad herum wischen zu müssen. Nach ein bis zwei Wochen hatten wir dann alle im Haus eine passable Büroausrüstung, nach drei Wochen wurde unser Datenrate auf unbegrenzt umgestellt und nach vier Wochen hatte jeder für sich ein stilles Eck im Haus erobert, von dem aus gearbeitet, telefoniert und ungestört an Online-Meetings teilgenommen werden kann. Diese Umstellungsphase lief eher planlos ab und wurde durch immer neue Regeln, Informationen und Verhaltenskodizes noch erschwert. Trotzdem würde ich sagen, hat mein Haushalt das Umrüsten auf Homeoffice und – in meinem Fall – auf digitale Lehre, ganz gut hinbekommen.

Fairness

Wir haben zuhause genügend Platz, waren bereits vor Corona ganz gut mit technischen Geräten ausgerüstet und konnten ohne größere Probleme unsere Datenrate ausbauen. So leicht haben es aber nicht alle. Immerhin hat nicht jeder das Glück in einem Haus zu wohnen. Das Leben mancher Menschen konzentriert sich in der Corona-Krise auf wenige Quadratmeter, die häufig auch noch mit anderen geteilt werden müssen und nur für Sport, Einkaufen sowie Arbeit verlassen werden dürfen. Laut Statista fehlte außerdem 2019 rund fünf Prozent der Haushalte ein Internetzugang[1] – und dieser ist die Grundlage für sämtliche Heimarbeit und digitale Lehre. Wer kein Internet hat, kann nicht mitmachen. Digitale Lehre hat damit ein Fairness-Problem. Nicht jeder hat die gleichen Voraussetzungen und kann sich dasselbe leisten. Wer nicht mithalten kann, wird abgehängt. Für Schüler*innen, Student*innen und Weiterbildungsteilnehmende, deren Leben daraus besteht zu lernen, Prüfungen abzulegen und damit den nächsten Lernabschnitt zu erreichen, kann das bedeuten, dass sie unverschuldet Extrarunden drehen müssen.

Organisation

Aber auch ein intakter Internetanschluss ist kein Garant für eine funktionierende Online-Lehre. Herausforderungen wie der Ausbau des digitalen Lehrangebots, die Bereitschaft zur Nutzung von und gegebenenfalls Schulungen zu Onlineangeboten seitens der Dozierende können aufkommen. Immerhin nutzt praktisch jede Hochschule bereits ein Lernmanagementsystem, wie moodle beispielsweise, zur Kommunikation, Organisation und Informationsverteilung von und über Vorlesungen, trotzdem haben auch die Hochschulen Nachholbedarf. E-Lectures, koordinierte Informationsverteilung, Abgabe von Arbeiten und Übungen sowie Online-Prüfungen – das alles musste erst einmal so aufbereitet werden, dass es für die große Masse eines ganzen Studiengangs funktioniert.

Inzwischen klappt alles recht gut und ich habe über die gesamte Woche verteilt regelmäßig Online-Vorlesungen, genauso wie sie auch in meinem Stundenplan stehen – lediglich die Veranstaltungen, die Präsenz verlangen, fallen natürlich weg. Nur wenn die Technik ab und an die Lust verliert, werden uns wieder die Nachteile des Online-Semesters ins Gedächtnis gerufen. Und auch die Kommunikation macht Probleme. Mit Kommiliton*innen wird nur noch über WhatsApp diskutiert, gemeinsames Lernen fällt weg, Dozierenden muss man für jede Frage eine Email schreiben. Insgesamt bin ich viel mehr auf mich alleine gestellt, auch wenn die digitale Begleitung durch die Hochschule, wie zum Beispiel die neue Chatberatung, einiges abfedert.

Isolation

Das Studium zeigt ganz neue Herausforderungen. Ich sitze von morgens bis abends zuhause und tippe auf dem PC herum. Die Trennung zwischen Studium, Arbeit und Freizeit verschwimmt zusehends. Was ich anfangs für kein Problem gehalten habe, stresst mich mit der Zeit immer mehr. Mir fehlt die klare Abgrenzung, das eindeutige Signal, dass mir erlaubt abzuschalten. Früher war das eine räumliche Trennung: der Nachhauseweg von der Arbeit, das Verlassen der Bibliothek an der Hochschule – jetzt bin ich immer am selben Ort und muss mir ganz deutlich selbst sagen „Ich habe Feierabend“, damit es in meinem Kopf auch ankommt. Die fehlende Ablenkung und Abwechslung hilft da nicht unbedingt. Ich kann mich nicht mit Freunden treffen oder irgendwo hinfahren, um Abstand zu gewinnen. Gerade muss ich das alles nur in meinem Kopf schaffen.

Potenzial

Aber es ist nicht alles schlecht und ich bin optimistisch – genauso wie z.B. im Bereich der Schule 83 Prozent der Schüler*innen, die in einer Umfrage im März 2020 angaben, sie sähen aktuell in der Digitalisierung an ihrer Schule eher eine Chance als ein Risiko[2]. Und wenn nicht jetzt, wann dann? Die Corona-Krise schickt uns ins Homeoffice und die digitale Lehre. Sie drängt die Gesellschaft darüber zu diskutieren, wie beides fairer gestaltet werden kann, wie man jedem Menschen online einen gleichwertigen Zugang zu Bildung ermöglichen kann, wie Lehrenden auch über Distanz Lerninhalt vermitteln können. Nachdem das bisherige System zum Absturz gezwungen wurde, arbeiten gerade alle daran die Gesellschaft neu zu verkabeln und ein neues Modell aufzustellen, das genauso gut funktioniert, wie das alte – wenn nicht sogar besser. Der Ausnahmezustand schafft aber auch Raum neue Ideen für digitale Lehre zu entwickeln und ermöglicht mit Sonderregelungen sowie Erleichterungen auch diese auszuprobieren. Themen, die bisher keine große Beachtung bekommen haben, Entwicklungsschritte, die schon lange gegangen worden sein könnten, werden nun gemacht. Ich persönlich bin sehr zuversichtlich, dass wir in Zukunft davon profitieren werden.

 


[1]https://de.statista.com/statistik/daten/studie/153257/umfrage/haushalte-mit-internetzugang-in-deutschland-seit-2002/

[2]https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1108053/umfrage/schuelerumfrage-zur-chance-der-digitalisierung-fuer-deutsche-schulen/

Zurück